Georg Baselitz

Zustandsdrucke

12.04.2024 – 26.07.2024

Als Georg Baselitz 1963 eher zufällig in die Grafikdruckerei im Schloss Wolfsburg eingeladen wurde, waren die neuen grafischen Verfahren, allen voran der Siebdruck der amerikanische Popart gerade auf ihrem Höhepunkt. Baselitz hatte an der Akademie kein besonderes Interesse an den klassischen gra-fischen Techniken gezeigt, umso erstaunlicher, dass der explizite Maler sie hier ein für alle Male für sich entdeckte und in seiner ganz eigenen Weise in das Werkgeschehen der folgenden Jahre „einverleibte“. Es wäre nicht Baselitz, der sich immer als Teil der aktuellsten und radikalsten Spitzengruppe der zeit-genössischen Kunst sah, diesen Platz von vorneherein beanspruchte und durch sein präzises, extro-vertiertes, packendes Werk auch durchsetzte, wenn er nicht auch in der Grafik sein Werk in Zustimmung und expliziter Absetzung zum Mainstream entwickelt hätte. Anders als den auf eine mechanisierte Mas-senproduktion zielenden Siebdruck, wendete sich Baselitz den eher „veralteten“, klassischen Techniken vom ersten Vernis-mou zur Kaltnadelradierung, der Aquatinta, dem Linolschnitt und seit den ersten Holzskulpturen auch dem Holzschnitt zu. Anstatt einer entwertenden Massenproduktion zielte er aus kleine und kleinste Editionen. Sein Vorbild definierte der leidenschaftliche Sammler von historischen Grafiken, die von den niederländischen Stechern um 1600 (z.B. H. Goltzius), über die Blätter der Ma-nieristen und den Grafikern der Schule von Fontainebleau, so wie den Meistern des Clair-obscur-Holz-schnittes reichten, vor allem in der französischen Tradition der Peintre-Graveur, die wie Baudelaire 1862 in seinen „Peintre et Aquafortistes“ schrieb, die Radierung als „Verherrlichung der Individualität des Künstlers“, sah. So malte Baselitz 1962/63 die „Hommage à Charles Meryon“ eines jener berühm-ten Peintre-Graveurs, die sich durch eine Konzentration auf den Eigenwert der Grafik als treibendes Entwicklungsmedium in der eigenen Kunst definierten, noch bevor er sich überhaupt selbst mit der Grafik beschäftigte. Dabei reichte seine Motivwahl von Ausschnitten aus eigenen Zeichnungen und Ge-mälden, Fotografien, alten Postkarten bis hin zu völlig losgelösten grafischen Eigenentwicklungen. Vor allem interessierte ihn, wie er in einem Interview von 1985 Kat. G.B. – Vier Wände, Kunsthalle Bielefeld, S. 15) betont ein „extremer Antinaturalismus“. „Das kann sein die Überziehung, die Über-streckung, die Verknorpelung, das Ornamentale in den Blättern, es kann aber auch sein die Sinnlichkeit, also der Reiz, der durch die Gravur entsteht, so daß man also das inhaltlich Gebundene verlässt..“.
Als Neuling arbeitete er sich in den folgenden Jahren durch die verschiedenen Hoch- und Tief-drucktechniken, behielt aber immer sein eigenes Anliegen an die Kunst und seinen eigenen Blickwinkel auf das Zeitgeschehen bei. Schon bald mischte er in seinen Blättern schichtweise verschiedene grafische Techniken und löste sich damit aus der Grafikhistorie. Intensiv erforschte er die handwerklich Seite und die diversen Druckmöglichkeiten. Zeitweise vor allem Mitte der 70er Jahre schienen sie ihm noch griffiger, um seinen innersten Konflikt: die Auseinandersetzung von Motiv und Mittel definieren zu können, ohne die Gefahr sein Expressivität im Ausdruck durch die „angeborene“ Expressivität der Farbe zu überdecken. Wie z. B. die Serie von 4 Linolschnitten „o.T.“ (Landschaften) 1979 zeigt, ringt er hier in das Linol schneidend und kratzend mit dem Verhältnis von Motiv und Grund und Motiv und Ab-straktion. Während im 1.Zustand das im Rund mit der wiederkehrenden rechtwinkligen Ecke links ein-gefasste Motiv noch singulär vor dem flächigen Hintergrund eher plastisch in den Raum „ragt“, wird es in der Weiterentwicklung in den Zuständen 2.-.4. immer mehr von einem feinädrigen Netz von Linien eingesponnen, die das Motiv in der Fläche befestigen und zugleich in seinen breiten hell/dunklen Flächen hervortreten und wieder in das grafisch expressive Geflecht versinken lassen. Wie Siegfried Gohr in seinem legendären Artikel: „Grafik als Prinzip“ (1984) schreibt, gelingt es ihm so, dass „die Motive in einer eigentümlichen Schwebe verharren zwischen ihrem Erscheinen und ihrem Verhüllt- oder Verdecktwerden“ (aus: G. B., Druckgrafik, Ostfildern 2008, S. 43).
Anders als in der grafischen Massenproduktion bedeutet für Baselitz der Weg das Ziel: seine Probe- und Zustandsdrucke dienen der intensiven Entwicklung und Ausarbeitung des „Motiv-Mittel-Themas“. Jeder Zustand bietet eine mögliche und gültige Ausformulierung des Themas und ist als solcher einmalig. Häufig wird er weiter überarbeitet oder auch noch zusätzlich übermalt, was seine Einzigartigkeit, die das Druckmedium konterkariert, noch betont. Mit seinen Zustandsdrucken schafft Baselitz „Druck-bilder“, die an Dynamik und Intensität bis heute ihresgleichen suchen.
Dr. Cornelia Oßwald-Hoffmann, April 2024

Georg Baselitz
ohne Titel, 1977 (WV 227)
Blatt 3 aus der Mappe: „Landschaften“
Kaltnadel, Aquatinta auf Kupfer, 4. Zustand
Plattenformat: 31,7 x 24,8 cm; Blatt: 77,5 x 52,7 cm
1 Probedruck blauschwarz auf Kupferdruckpapier, dat./sign. u.r.: Baselitz 80

 

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